Laktatbildung: Wenn die Muskeln sauer werden

Beim Sport ist die Muskulatur auf sehr viel Energie angewiesen.

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Für Leistungssportler gewohntes Prozedere: Blutabgabe am Ohr zur Bestimmung des Laktatwerts.

Je nach Trainings­zustand variiert die Menge des Stoffwechselproduktes Laktat bei Erhöhung der Trainingsintensität deutlich. Dr. Florian Porzig – Teamarzt der nordischen Kombinierer – erklärt, warum er bei seinen Sportlern regelmäßig Laktatwerte analysiert.

Text Sigrun Hannes

Wettkampfentscheidungen im Skilanglauf fallen oftmals erst beim Zielsprint. „Wer hat jetzt noch die notwendigen Körner?“, lautet dann oft der etwas triviale Kommentar des Moderators. Er sollte mal besser fragen: „Wessen Körper produziert am meisten Laktat, und wessen Körper toleriert diese Übersäuerung in den Beinen am besten?“ Denn im Finish erhöhen die Athleten die Belastungsintensität derart, dass die arbeitende Muskulatur nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Die Folge: Das Stoffwechselzwischenprodukt „Laktat“ häuft sich erst in der Arbeitsmuskulatur, dann im Körper an, da ohne ausreichend Sauerstoff der energiebringende Abbau von Nährstoffen nicht bis zum Kohlendioxid vollendet werden kann, das der Sportler dann abatmen könnte. Der Vorgang der „Verbrennung“ wird unterbrochen, ähnlich der Verkokelung von Holz in einem Meiler. Nicht zu verwechseln ist diese Muskelübersäuerung übrigens mit der klassischen Ermüdung. „Wenn am Ende eines Marathonlaufes die Beine brennen, hat das nichts mit Übersäuerung zu tun. Hier liegt schlicht eine muskuläre Ermüdung vor“, erklärt Dr. Florian Porzig, Mannschaftsarzt der erfolgreichen Nordischen Kombinierer.

ATP – die Schlüsselsubstanz

Je nach Belastung in Training oder Wettkampf steigt der Energiebedarf der Muskelzellen im Körper des Athleten mehr oder weniger stark an. Als unmittelbare und einzige Energiequelle nutzt der Muskel das energiereiche Molekül Adenosintriphosphat (ATP). Um Muskelkontraktionen zu ermöglichen, wird je ein Phosphat-Teilchen mithilfe von Enzymen abgespalten. Dabei wird Energie frei, die der Muskel direkt zur Kontraktion nutzen kann. Da die einzelne Muskelzelle und der gesamte Körper nur über einen sehr geringen ATP-Vorrat verfügen, der beispielsweise beim Skilanglauf gerade mal für drei bis vier Doppelstockschübe ausreichen würde, ist die Muskulatur ständig auf neue ATP-Bildung angewiesen. Das wertvolle Molekül muss also während einer Belastung deutlich vermehrt, aber sogar im Schlaf über verschiedene Wege fortlaufend neu aufgebaut und bereitgestellt werden. In einem Kreislauf wird das Phosphat unter Aufwendung von Energie wieder an das ATP angehängt. Auf welchen der im Folgenden ­beschriebenen Energiegewinnungswege der Körper dabei schwer­punkt­mäßig zurückgreift, hängt im Wesentlichen von der Intensität und Dauer der Belastung im Verhältnis zum aktuellen Trainingszustand des Sportlers ab.

Die Wege der Energiebereitstellung

In der Muskulatur gibt es neben dem kleinen ATP-Vorrat noch eine zweite Substanz mit ähnlich geringer Vorratslage, das Kreatinphosphat (KP). Wird dessen Phosphat-Teilchen abgespalten, so kann durch die frei werdende Energie ATP wieder „aufgeladen“ werden und steht dem Muskel dann sofort zur Verfügung. Das Problem ist: Allein mit diesem Energielieferanten kämen wir auch noch nicht viel weiter. Wir könnten gerade mal einen kleinen Anstieg bewältigen, und schon wären erneut sämtliche Reserven ausgeschöpft, es könnte keine Muskelaktivität mehr stattfinden. Insofern ist der Körper gezwungen, sich anderer Energiequellen zu bedienen. Und hier kommen die Kohlenhydrate und Fette ins Spiel, beziehungsweise deren Abbauprodukte Glukose und Fettsäuren. Mithilfe von Enzymen werden diese Nährstoffe gespalten und biologisch, das heißt flammenlos verbrannt. Durch die frei werdende Energie können über den Umweg des Kreatinphosphats die wertvollen ATP-Moleküle immer wieder neu zusammengesetzt, quasi mit Energie aufgeladen werden. ATP und KP fungieren insofern nur als Energieüberträger und Puffer. Grund: Läge ausreichend Energie für einen Skimarathon zum Beispiel als ATP vor, würde ein normalgewichtiger Sportler vor seinem Start mehrere hundert Kilo wiegen, da die Moleküle im Verhältnis riesengroß und schwer sind.

Aerobe und anaerobe Energiegewinnung

In Form von Nahrung führen wir unserem Körper Energie von außen zu. Die drei verwertbaren Stoffe hierbei sind die Kohlen­hydrate, Fette und Eiweiße, wobei letztere nur im absoluten Mangelfall verstoffwechselt werden und deshalb hier nicht thematisiert werden sollen. Die beiden übrigen Nährstoffe werden bei Bedarf im Muskel auf unterschiedliche Weise enzymatisch in kleinere Bestandteile zerlegt, wobei Energie frei wird. Damit können schon einige ATPs wiederhergestellt werden. Dieser anaerobe (ohne Beteiligung von Sauerstoff) Teil der Energiegewinnung reicht aber nicht einmal aus, um den Körper in völliger Ruhe am Leben zu halten, sonst würden Menschen in einem luftleeren Raum nicht ersticken. Der Prozess läuft bei den sehr energiehaltigen Fetten zwar effektiver, dafür aber deutlich träger ab als bei den Zuckern, sprich Kohlenhydraten. Bei geringem Tempo werden deshalb bevorzugt Fette als im Körper relativ unbegrenzt vorrätige Energieträger herangezogen. Je intensiver die Belastung, desto mehr Zucker muss abgebaut werden. Ab einer bestimmten Abbaustufe sind die „Bruchstücke“ von Fett und Zucker interessanterweise identisch genug, um im gleichen Zyklus weiterverarbeitet zu werden. Dieser Energieträger wird in den Zellkraftwerken dann aerob (mit dem Sauerstoff aus der Atemluft) verstoffwechselt. In diesem Zitronensäurezyklus entstehen als kleinstmögliche Abbauprodukte der Nährstoffe Wasser und Kohlendioxid, die beide abgeatmet werden. Hier erst wird genug Energie frei, um den Körper über den Umweg KP und ATP ausreichend zu versorgen, zumindest bis zu einem bestimmten Belastungsgrad.

Nun möchte der Sportler aber im Wettkampf gerne seinen Vordermann abhängen. Er beschließt also, am nächsten Anstieg zu attackieren. Nichts leichter als das: Es wird aufs Tempo gedrückt, der Stockeinsatz erfolgt kräftiger, der Beinabdruck explosiver – die Belastungsintensität erhöht sich immens!

Laktatbildung durch Sauerstoffmangel

Der Energiebedarf übersteigt ab einer individuellen Schwelle die Menge, die aerob erzeugt werden kann. Um dieses Energiedefizit zumindest kurzfristig zu überbrücken, wird der anaerobe Umsatz an Kohlenhydraten bis zum Zwischenstoff Pyruvat erhöht. Das kann aber im Zitronensäurezyklus nicht noch zusätzlich aerob verbrannt werden, es entsteht quasi eine Art Pyruvat-Stau. Um noch ein paar Sekunden mit voller Leistung herauszuholen, wandelt die Zelle das Pyruvat in Laktat um, nur so kann es aus der Zelle geschleust werden. Bis sich die Laktatkonzentration über die Blutgefäße im ganzen Körper aufs Maximum verteilt hat, kann die hohe anaerobe Leis­tung dann noch gehalten werden. Maximum bedeutet, dass die Konzentration der beiden Säuren – Laktat im Körper und Pyruvat in den Muskelzellen – so hoch ist, dass die vorhin beschriebenen Enzyme zur Aufspaltung der Nährstoffe allein aus chemischen Gründen gar nicht mehr arbeiten können. Das ist der Punkt, an dem man wegen „Übersäuerung“ mehr oder weniger „einbricht“ und für den Moment extrem an Leistung verliert.

Laktatanalyse

Dr. Florian Porzig führt bei seinen erfolgreichen nordischen Kombinierern regelmäßig eine Leistungsdiagnostik durch. Auf die Vorteile der Laktatanalyse hin befragt, nennt er in erster Linie die hohe Präzision und die resultierenden Trainingsempfehlungen, die sich individuell für den einzelnen Athleten ergeben. Denn ab welcher Belastungsintensität ein Maß an Laktat anfalle, das nicht schnell genug eliminiert werden kann und sich dadurch anhäuft, lasse sich nicht verallgemeinern. „Diese sogenannte anaerobe Schwelle ist bei jedem verschieden“, so der erfahrene Sportmediziner. Bei einem bestimmten Tempo befindet sich Sportler A noch in aerober Stoffwechsellage und deckt den Energiebedarf fast ausschließlich aus Fettsäuren, während bei Sportler B womöglich schon die anaerobe Stoffwechselaktivität überwiegt.

Bei der Laktatuntersuchung wird der Athlet einer genormten stufenförmigen Belastungssteigerung, meist auf dem Laufband, ausgesetzt. Bevor die Intensität, das heißt in diesem Fall die Laufgeschwindigkeit, von einer Stufe auf die nächste erhöht wird, entnimmt der Arzt Blut am Ohr, gleichzeitig wird die Herzfrequenz gemessen. Dies wiederholt sich so oft, bis der Sportler erschöpfungsbedingt abbrechen muss. Die Datenpaare aus Geschwindigkeit und zugehörigem Laktatwert werden in ein Koordinatensystem eingetragen. Anhand der resultierenden Laktat-Leistungs-Kurve sowie des Herzfrequenzverlaufs liest Dr. Porzig die individuellen Stoffwechselbereiche seines Athleten ab. „Dann kann ich ihm genau sagen, bei welcher Herzfrequenz er seine Grundlagenausdauer verbessert und wann er sich in dem Bereich bewegt, in dem mehr Laktat anfällt und er ver­stärkt auf anaerobe Energiegewinnung zurückgreift.“ Da die Sportler im Training ohnehin Pulsbänder tragen, lässt sich der Trainingsbereich so ständig kontrollieren.

Wie ein Trainer vom Verlauf der Kurve auf die individuellen Trainingszonen schließt, ist ein Stück weit dessen jeweiliges Talent. Es gibt zwar Faustregeln, die aber im Hochleistungssport zu schwammig wären. Eine solche weit verbreitete Regel, die „4-mmol*-Schwelle“ nach Mader mit Schwellentempo bei Überschreiten der 4 mmol-Grenze, gilt als wenig aussagekräftig. „In der Tat liegen Studien aus den 80er Jahren vor, welche einen Laktatwert von 4 mmol pro Liter Blut als Schwelle zur anaeroben Energiebereitstellung angeben. Dies sind aber Durchschnittswerte einer großen Anzahl von untersuchten Sportlern. Der individuelle Wert ist von Sportler zu Sportler verschieden“, erklärt der Allgäuer Mannschaftsarzt. Auch die Laktat­konzentration bei Leistungsabbruch ist sehr individuell. Während der eine bei 7 mmol trotz bester Motivation aufgeben muss, sind von Bobanschiebern und Radsprintern Abbruchwerte über 20 bekannt. Wie lange und heftig jemand spurten kann, hängt von der Kombination aus Laktat-Leistungs-Kurve und der Laktat-Toleranz ab.

Man muss nicht immer alles geben

Für Skilangläufer ist es sehr wichtig, die Grundlagenausdauer zu trainieren. Dr. Porzig empfiehlt 70 Prozent des Pensums in aerober, auf Fettsäuren basierender Stoffwechsellage zu absolvieren. Um im Wettkampf auch bei möglichen Zwischensprints mithalten zu können, gelte es, regelmäßiges Intervalltraining einzubauen, also immer wieder über kurze Zeitabschnitte im Bereich der anaeroben Schwelle zu trainieren. Seine Top-Athleten setzen mitunter auch noch höhere Reize. „Dann befinden sie sich in einem Bereich von rund 20 Prozent über ihrer individuellen anaeroben Schwelle“, so der Teamarzt. Solch hohe Intensitäten machen jedoch nur circa zehn Prozent des Trainings aus. Die Sportler trainieren hier ihre Laktattoleranz, ihre Stehfestigkeit. Das heißt, dass sie trotz hoher Blutlaktatwerte noch durchhalten können, bei einer immer noch sehr ordentlichen technischen Bewegungsausführung.

Wichtiger Energieträger Laktat

Jahrelang wurde Laktat nur als das unerwünschte Stoffwechselprodukt angesehen, das Muskelarbeit behindert und die Leistung mindert. Inzwischen schreiben Forscher dem Molekül aber zahlreiche positive Merkmale zu. Wichtig ist vor allen Dingen die Erkenntnis, dass Laktat mehr als einen Energierest enthält, der von verschiedenen Körperstrukturen genutzt werden kann. Wenn man sich nach dem Zielsprint wieder erholt, ist das ein Zeichen dafür, dass das Laktat Stück für Stück wieder zu Pyruvat umgewandelt, in die Zelle eingeschleust und dort dann mit Sauerstoff (aerob) zu Ende verstoffwechselt wird. In der Leber und in den Nieren wird daraus zwischenzeitlich neue Glukose gebildet. Erstaunlich ist auch die Laktatnutzung im Herzmuskel. Sobald die Blutlaktat­konzentration ansteigt, deckt das Herz 60 Prozent seines Energiebedarfs durch Laktat.

Aufgrund seiner nachweislich steuernden und regulierenden Funktion wird Laktat inzwischen als „Pseudo-Hormon“ bezeichnet. Eine wichtige Rolle wird ihm zudem bei der Blutgefäßneubildung und bei der Wundheilung zugesprochen.

Insofern ist Laktat keineswegs das große Übel, das es möglichst niedrig zu halten gilt. „Im Gegenteil!“, erklärt Dr. Porzig. „Bei hoch ausdauertrainierten Sportlern treten unter Umständen noch höhere Laktatspitzenwerte auf als bei weniger fitten Menschen. Der Unterschied zum Untrainierten besteht lediglich darin, dass Profis fähig sind, Übersäuerung besser zu tolerieren. Zudem können sie angefallenes Laktat schneller wie beschrieben resorbieren.“

Fazit: Laktat ist nicht „nur“ schlecht

Laktat ist nicht unbedingt des Sportlers allerbester Freund, es sollte aber auch kein Feind sein. Übersäuerung ist im Regelfall nur ein Zeichen des Körpers, dass man momentan eine Leistung abruft, die nur kurzfristig zur Verfügung steht. Bei gesunden Menschen ist das nicht mehr als eine Hinweisleuchte, für Menschen mit Herz-Lungen-­Problemen aber eine echte Warnlampe! Wichtig im Wettkampf: Der Stoffwechsel verträgt nur eine gewisse Konzentration der Milchsäure (Laktat). Einmal überschritten, und sei es auch nur kurz, heißt das bis zur Wiederherstellung des chemischen Gleichgewichts: Energiesparmodus. Man sollte also seine individuelle Grenze kennen!

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Unser Experte: Dr. med. Florian Porzig ist Teamarzt der Deutschen Skinationalmannschaft Nordische Kombination. Als Facharzt für Allgemeinmedizin und Sportmedizin ­arbeitet er in der allgemeinärztlichen Gemeinschaftspraxis Paluka & Porzig in Fischen im Allgäu. In seiner Praxis für Sportmedizin führt er regelmäßig leis­tungs­dia­gnos­ti­sche Untersuchungen bei Spitzenathleten durch. Zudem ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Interdisziplinäre Sportmedizin Oberallgäu. www.sportmedizin-allgaeu.de

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Dieser Artikel ist aus der Ausgabe: nordic sports Nr. 02 / 2014