„Mehr auf den Prozess fokussieren“

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Wintersportler müssen 2020/21 mit vielen Ungewissheiten umgehen. Der norwegische Langläufer Emil Iversen wird mit seinem Team wegen des Corona-Infektionsrisikos bei einigen Weltcups nicht dabei sein.
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Die laufende Saison ist aufgrund der großen Unsicher­heiten, die die Corona-Pandemie mit sich bringt, für die Teams auch mental eine große Herausforderung. Mit Mentalcoach Wolfgang Seidl sprachen wir über Bewältigungsstrategien und die Rolle der Trainer.

nordic sports: Herr Seidl, sich Ziele zu setzen, ist für Sportler, insbesondere Profis, sehr wichtig. Wie geht man nun mit der eigenen Zielsetzung 
in einer Saison wie der jetzigen 
um, in der die Austragung vieler Wettkämpfe unsicher ist?

Wolfgang Seidl: Ich empfehle Sportlern, sich neben den klassischen Ergebniszielen, wie Platzierungen, auch konkrete Leistungsziele zu setzen. Diese können auch im Training erreicht werden und sind eine wichtige Bestätigung der täglichen Arbeit. Daneben rate ich jedem Sportler, sich wieder mehr auf seinen Weg, also seinen Prozess zu fokussieren. Soll heißen, dass Athleten sich wieder intensiver mit ihren Fortschritten im Training auseinandersetzen und jeden Schritt bewusster und achtsamer machen. Schlussendlich sind es die täglichen kleinen Schritte, die sie zu ihren ganz großen Zielen bringen.

Verletzungen, Krankheiten, Wettkampfabsagen: Dass die Pläne eines Athleten kurzfristig durchkreuzt werden, passiert auch unabhängig von Corona immer wieder. Kann man lernen, mit solchen Unsicherheiten zu leben und umzugehen?

Egal, welche großen Herausforderungen es zu meistern gibt, jeder kann lernen, damit besser umzugehen. Sportler, die sich durch verschiedene präventive Maß-
nahmen sowohl mental als auch seelisch stärken, kommen mit schwierigen Umständen leichter zurecht. Dabei spielt ihr Mindset eine entscheidende Rolle. Athleten mit einer antrainierten Resilienz sehen sich weniger oft als Opfer einer Situation und nehmen selbstverantwortlich das Zepter in die eigene Hand. Vielleicht fördert diese Corona-Pandemie bei Sportlern auch die Überzeugung, zukünftig konsequenter und präventiv an ihren mentalen Skills zu arbeiten.

Gibt es mentale Techniken, die dabei helfen, mit Unsicherheiten umzugehen?

Es gibt unterschiedliche mentale Werkzeuge, die Sportler nutzen können. Ich möchte kurz drei Fertigkeiten vorstellen. Erstens die Selbstgesprächsregulation. Damit können Athleten ihre Optionen mithilfe bewusst geführter Selbstgesprächen erweitern und auch auf ihr eigenes Befinden aktiv Einfluss nehmen. Eine weitere Möglichkeit sind Visualisierungsübungen. Durch Erinnerungen an gute vergangene Leistungen können Athleten wieder ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten stärken und somit ihr Selbstvertrauen, auch in Wettkampfpausen, aufbauen. Auch Bewegungsabläufe, die aufgrund einer Verletzung momentan in der Praxis nicht durchführbar sind, können dadurch trainiert werden. Bei der dritten Technik geht es darum, die eigene Anspannung bewusst zu steuern. Um angemessen 
zu handeln, benötigen Athleten ein individuell angemessenes psychisches und physisches Erregungsniveau. Mithilfe der Aktivationsregulation haben sie die Möglichkeit, jederzeit bewusst in ihre Zone der optimalen Leistungsfähigkeit einzusteigen. Diese mentalen Techniken sind sehr wirkungsvoll. Aber wie auch beim körperlichen Training braucht es Geduld und Zeit, sich diese mentalen Werkzeuge anzueignen.

Welche Rolle spielen die Trainer und Betreuer beim Umgang mit einer von -Unsicherheiten geprägten Lage wie der derzeitigen?

Trainer spielen in diesen unsicheren Zeiten eine wesentliche Rolle und stehen selbst vor einer Mammut
aufgabe. Sie müssen das Training unter ständigen Veränderungen organisieren und ihre Athleten in diesen unsicheren Zeiten bei Laune halten. Der Trainer sollte Zuversicht und Vertrauen ausstrahlen, obwohl er innerlich selbst sehr oft leidet und an sein Limit stößt. Zusätzlich führen auch noch fehlende Perspektiven, budgetäre Kürzungen in Verbänden und die große Verantwortung zu großen psychischen Belastungen. 
In dieser Zeit wäre es wichtig, dass Verbände auch ihren Trainern sportpsychologische Hilfe anbieten.

Nach aktuellem Stand finden die Weltcups und die Weltmeisterschaften mit relativ leichten Änderungen statt. Was sind aus Ihrer Sicht zusammengefasst die wichtigsten Punkte für die Herangehensweise an die Saison aus mentaler Sicht?

Da die neue Saison vermutlich ohne viele Zuseher stattfinden wird, sollten sich die Athleten vorab auf diese Umstände einstellen. Vor allem jene Athleten, die den letzten Prozentpunkt Leistung mithilfe des Publikums aus sich herausholen können. 
Ein weiterer Punkt ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Aufgrund von Absagen in den vergangenen Monaten fehlt es vielfach an Wettkampf-Erfahrungen. Auch wenn Sportler sich regelmäßig im Training duellieren, brauchen viele einfach die Bestätigung aus einem richtigen Wettkampf. Hier ist es hilfreich, sich wieder an gute Leistungen vergangener Wettkämpfe zu erinnern und diese Erlebnisse geistig intensiv nachzuerleben. Auch sollten sich Athleten bewusst machen, welche intensiven Trainingsumfänge sie bereits in den Beinen haben, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Und zum Schluss möchte ich jedem Athleten empfehlen, mit einer „fokussierten Lockerheit“ in die neue Saison zu starten. Da die allermeisten es kaum erwarten können, dass es endlich wieder losgeht, und unbedingt zeigen wollen, was sie draufhaben, besteht die Gefahr, dass sie zu sehr verkrampfen und somit nicht ihr Leistungs-Optimum abrufen können. Mein Tipp: „Hang loose“, wie die Hawaiianer sagen würden.

Vielen Dank für das Gespräch!

nordic sports-experte Wolfgang Seidl ist selbstständiger akademischer Mentalcoach und HeartMath®-Coach. Als Leistungssportler war er unter anderem mehrfacher Finisher in Ironman- und Ironman-70.3-Wettkämpfen. Als Mentalcoach betreut er Einzelsportler, stressgeplagte Menschen sowie ­Unternehmen. Unter anderem ist er Mentalcoach der österreichischen Trailrunning-­Nationalmannschaft. www.mana4you.at

Das Interview stammt aus Ausgabe 4/2020 und wurde vor Saisonstart geführt.

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