Massenbewegung

Norwegen ist die Wiege des weltweit boomenden Langlauf-Wettbewerbs für jedermann. nordic sports erklärt warum und zeigt die Highlights im diesjährigen Kalender.

Tjorben lässt sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und kippt den Kopf über die Lehne nach hinten, die Sonnenbrille rutscht von der Mütze runter, in den Mundwinkeln sieht man Reste von Speichel und Salz. Und obwohl er gezeichnet aussieht wie nach einer Woche Wald­arbeit, lächelt er, so breit es Mund und Wangen zulassen, als er die Webcam zurechtrückt und gebrochen deutsche Grüße in die Redaktion schickt.

Tjorben ist vierfacher Vater und wohnt nördlich von Lillehammer. Er hat gerade, wie er sagt, „mit die Familie spaziert“. Dieses Spazieren entpuppt sich als sonntägliche Skiwanderung von rund 90 Kilometern. „Wir sind mit dem Bahnen (dem Zug) zwei Stunden weggefahren und dann zu Hause gegangen!“ Und als wäre dieser Marsch für Erwachsene nicht anstrengend genug, waren sogar die Kinder dabei. Zwei laufen die Strecke schon alleine durch, die jüngeren waren die meiste Zeit auf Papis Rücken! „Wenn ein Loppet ist, dann ­gehen wir alle zusammen, da ist mehr los als an Weihnachten!“ Und mit „alle“ meint ­Tjorben wirklich alle. In­klusive aller Tanten und ­Onkel und ­Geschwistern und ersten Enkeln nimmt die Familie mit einer Truppenstärke von 28 Mann am Volkslauf teil.

Stellenwert

Für die Norweger ist der Volkslauf so etwas wie die Kirmes in deutschen Dörfern und Städtchen. Die Veranstaltungen haben einen derart hohen Stellenwert, dass sich quasi keiner traut, ihnen fernzubleiben. Rund um das eigentliche Rennen findet genauso viel Action statt wie in der Loipe. Der Wettkampfgedanke ist nur für einen ultrafitten Kern von vorrangiger ­Bedeutung. Ab der zweiten oder dritten Welle an Startern ebbt das Tempo merklich ab, dafür steigt der Geräuschpegel durch fortwährendes, von tiefen Atemzügen unterbrochenes Gemurmel. Und wenn die gemütlicheren Läufer die Startlinie passiert haben, folgen die Urgemütlichen. Outfits, denen der Begriff Retro mehr als schmeichelt, von Sonne und Kälte gegerbte Gesichtshaut, der Blick leer, aber freundlich, und eine Dynamik in der ­Bewegung, die nicht auf eine Zielankunft schließen lässt. Frauen, Männer, echte Greise, Touristen, sogar Jugendliche nehmen teil, am Volkslauf und am teils 50 Kilometer langen Volksfest, das entlang der Strecke stattfindet. Doch die Welle schwappt herüber vom skandinavischen Festland. Und nicht als notwendiges Muss der Tourismusverbände und Regionen, sondern als wirtschaftlich stabile Veranstaltungen, mit professionellem Marketing, prestigeträchtigen Wertungen, überregionalen Serien und mittlerweile beträchtlichem Preis- und sogar Antrittsgeld. Das hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Langlaufkultur. Denn wo Preisgelder sind, findet man auch den ein oder anderen Topsportler, wo Topsportler sind, findet man jede Menge Fans, und wo Fans sind, da gehen auch die Sponsoren gerne hin. Dadurch findet nicht nur eine Professionalisierung des Events, sondern auch ein Ineinanderfließen von Profi-, Amateur- und Hobbysport statt. Beispiel: Die prominenteste Gestalt des Langlaufs, Petter ­Northug, hat unlängst seinen Titel vom Vorjahr beim „La Sgambeda“-Skimarathon verteidigt. Selbst die Veranstalter waren überrascht, dass Northug der Wettbewerb offenbar so wichtig ist, dass er unmittelbar nach dem 30-Kilometer-Weltcup­rennen in Davos noch beim italienischen Volkslauf an der Linie stand. Nur der Vollständigkeit halber: Northug gewann mit weniger als einer Sekunde im Spurt gegen Petr Novac. Northug weiß, wie die Szene funk­tioniert, und hat ­keine One-Man-Show, sondern ein packendes Finale geliefert. Das Zuschauerinteresse an der Veranstaltung nach den Northug-Starts soll sich fast v­erdoppelt haben.

Neben diesem Trend zur Teilnahme von Profis organisieren sich die Eliteläufer der Amateurszene vermehrt als professionell geführte Teams. Rund 20 dieser vorwiegend skandinavisch besetzten Mannschaften mit sicherer Sponsoren-­Unterstützung sorgen für ein absolutes ­Topniveau an der Spitze des Loppets. ­nordic sports-Experte ­Roland Lentner, selbst oft im vorderen Feld zu finden, räumt sogar ein: „Ein sehr guter Volksläufer kann schon mal mit oder sogar vor einem Profi landen. Meistens sind das dann aber ehemalige Hochleistungssportler oder Athleten, die knapp den Durchbruch ins Nationalteam verpasst ­haben.“ Das Gerücht, die drei als „Team Fischabfälle“ bekannten Ex-­Nationalfahrer Michael Rösch, Lars Berger und Alexander Os planten einen gemeinsamen Angriff auf die Szene, ist nicht wahr. Rösch bestätigte zwar gegenüber nordic sports, er könne ein paar zusätzliche Rennkilometer brauchen, doch die drei würden sich auf Biathlons vorbereiten und nicht auf Marathons. Die Belastungen und Ansprüche seien zu weit auseinander, als dass solch ein Projekt Erfolg versprechen würde. Auf die ­Frage, wie solch ein Starterfeld üblicherweise aufgebaut sei, bestätigt Lentner mit schelmischem Grinsen: „Es sind teilweise richtige Profis am Start, dann natürlich die ganzen Vollwahnsinnigen und Ehrgeizler.“ Das seien aber meistens die „üblichen ­Verdächtigen“. Der nachfolgende Pulk an Hobbyfahrern, Touristen, Neulingen und denen, die einfach mal das Flair solch ­einer Veranstaltung erfahren wollen, sei in Skandinavien deutlich größer.

Die Materialfrage

Einen weiteren Unterschied gibt es noch ­zwischen den mitteleuropäischen und den skandinavischen Loppets. Während der deutsche oder österreichische Volksläufer entweder mit zwei, drei oder vier vorpräparierten Skiern anreist oder ­sogar vor Ort die Serviceleute der Veranstalter beansprucht, würde ein Norweger eher ­seine Bank-PIN verraten als sein geheimes Wachsrezept. Laut Langlauf-Fanatiker ­Tjorben wird das Wissen maximal an die Kinder weitergegeben. Roland Lentner hat täglich schon rein beruflich mit Wachs, Strukturen und Belägen zu tun und präpariert deshalb selbst, er rät aber vor „blinden Selbstexperimenten“ ab. Ein 50er auf Skiern wie Steigeisen machet sicher keinen Spaß. Lentner rät, nach Möglichkeit am Tag vor dem Rennen zu wachsen und das Ergebnis bzw. die vorpräparierten Skier vor Ort zu testen. Das sei auch eine gute Gelegenheit, die Strecke zu besichtigen. Die Topläufer suchen sich dabei bereits Stellen für mögliche Angriffe aus, für die anderen geht es dabei eher um Sicherheit. Wenn wie beim Wasalauf fast 20.000 Mann über eine Loipe gehen, kann die so gut präpariert sein, wie es nur geht, die letzten Fahrer müssen dennoch durch regelrechte Schneeberge pflügen. Da lohnt es sich doppelt, zu wissen, wo enge Kurven warten oder vielleicht zugewehte Eisplatten lauern. Zum Thema Sicherheit sei eine Bitte vieler Veranstalter aufgeführt: Offenbar bringt der Trend, Loppets zu laufen, eine Zunahme vermeidbarer kleiner Unfälle mit sich. Das liegt daran, dass Läufer vor dem Lauf nie hinter einem Partner, geschweige denn in einer Gruppe ­gefahren sind und sich plötzlich im ­Trommelfeuer Hunderter Skier und Stöcke befinden. ­Gerade Quereinsteiger aus anderen ­Audauersportarten bringen oft eine sehr gute Physis mit und laufen somit in Gruppen und mit Geschwindigkeiten, die nicht ihrem Fahrkönnen entsprechen.

Selbsteinschätzung

Eine der zentralen Voraussetzungen, um ­einen Volkslauf in vollen Zügen genießen zu können, ist die richtige Einschätzung der eigenen ­Fähigkeiten. Das betrifft nicht nur die ­Streckenlänge, das Profil oder die äußeren Umstände. Wer 20 Kilometer entlang des Oberen Inns laufen kann, hat nicht automatisch die Puste für zum ­Beispiel einen Lauf in 2.500 Metern Höhe. Es gilt, den Lauf mit Bedacht ­auszuwählen, sich konsequent darauf vorzubereiten und sich vor Ort auch an der Stelle in die Startaufstellung einzureihen, die dem ­eigenen Niveau ­entspricht. Erst dann kann man die ­Atmosphäre auch ­wirklich erleben, die diesem Sport sein ­hohes Suchtpotenzial beschert.

Jeder Ski-Marathon ist solch ein Erlebnis! Aber es gibt diese ­wenigen, deren Andersartigkeit einen ganz eigenen Reiz oder eine gesteigerte Form der Herausforderung bieten, sei es durch ihren hohen ­Anspruch, extraordinäre Bedingungen oder das Starterfeld. Manch ein Läufer findet durch die etwas anderen Loppets den Einstieg in die Szene, ein anderer wiederum hat schon etliche Läufe in den unterschiedlichsten Städten, Regionen, Landschaften und Szenerien hinter sich und sucht die Abwechslung. Beiden kann ­geholfen werden. Ein paar Beispiele:

Stimmung, Sport und Spektakel

Im Zuge des Engadin Skima­ra­thons Anfang März findet einer der wenigen Läufe allein für Frauen statt. Bei ­anderen Rennen werden die Damen natürlich getrennt von den Herren gewertet, doch glaubt man den Teilnehmerinnen, liegt bei diesen exklusiven Läufen nur für Ladys eine ganz andere Stimmung über den Spuren. Zum einen können die besonders Ehrgeizigen unter den Damen direkter untereinander konkurrieren, ohne um die Herren „herumlaufen“ zu müssen, zum anderen geht das „schwache Geschlecht“ überwiegend mit ­etwas weniger Konkurrenzdenken ans Werk und fühlt sich ­zwischen männlichen „Rennpferden“ etwas unwohl. Schön, wenn sich auf diese Weise mehr Damen an einen Loppet herantrauen. Oder wie wäre es mit dem größten Skimarathon von ganz ­Nordamerika? Der ­Birkebeinerrennet ist mit über 10.000 Startern schon imposant. Das verrückte, typisch amerikanische Nebenprogramm macht ihn aber zum Megaevent. Profisprintrennen mitten durch die Innenstadt, Kinderrennen mit über 1.000 Knirpsen unter 13 Jahren, Fun-­Rennen auf Sechs-Mann-Skiern, Rennen in historischen Outfits und ein Langlauf-Wettbewerb mit Hunden als „Zughilfe“ – der ein oder andere muss bei den vielen Seiten-Events aufpassen, ­seinen eigenen Lauf nicht zu verpassen.

Ein Hammer ohne viel Drumherum findet dagegen ­Anfang April in Finnland statt. Wer nach 60 Kilometern klassisch noch ­entspannt ins Ziel gleitet, kann hier gleich die Skier wechseln und dieselbe Runde noch mal abskaten! Wie beim Skiathlon zählen hier Ausdauer, ­Willensstärke und vor allem eine ausgewogene Technik in beiden Stilarten, und das über 120 Kilometer! Wer antritt, hat zumindest nicht viel Konkurrenz, bei solchen Distanzen kommen selbst die langlaufverrückten Skandinavier an ihre Grenzen. Wir von nordic sports wünschen uns mehr solcher außergewöhnlichen Events. Diese ­Geschichten beflügeln doch die Sportlerherzen!

Engadin Skimarathon 15. Frauenlauf:

Rennen: 02.03.2014

Strecke: 17 km Skating, vorwiegend flach

Startgeld: 50,00/67,00 Euro (Meldung ab 16.02.)

Start-Ziel: Samedan-S-chanf (SUI)

Starter: ca. 1.700 Frauen

Kontakt: info@engadin-skimarathon.ch

Web: www.engadin-skimarathon.ch

Birkebeinerrennet:

Event: 20.–23.02.2014

Strecken: 50 km Skating, 54 km klassisch

23/12 km Skiathlon

Startgeld: 50,00 bis 130,00 US Dollar

Zielort: Hayward (USA)

Starter: max. 10.300 + Nebenevents

Kontakt: birkie@birkei.com

Web: www.birkie.com

Lapponia Hiito Kombiwettbewerb:

Event: 02.–06.04.2014

Strecke: 60 km klassisch +

60 km freie Technik

(inkl. Materialwechsel)

Startgeld: 50,00 bis 80,00 Euro (Meldedatum)

Startort: Sotkamo/Muonio

Starter: ca. 600

Kontakt: heikki.kivinen@muonio.fi

Web: www.lapponiahiihto.fi

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Sie laufen in alle Richtungen und haben doch das gleiche Ziel: Ski-Volkslauf-Finisher sein!
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Stoppuhr im Nacken? Der Großteil der Läufer genießt den Lauf in vollen Zügen. Fotos: IMAGO, Till Gottbrath/PR, Tarmo Haud/PR

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Dieser Artikel ist aus der Ausgabe: nordic sports Nr. 01 / 2014